Erstes Kapitel

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Wir saßen also an diesem schwülen Julimorgen um Fünf auf unserer Terrasse und Nils war tot. Unsere großen Kinder schliefen noch, Julius wartete oben in seinem Zimmer darauf, dass wir ihm Bescheid sagen, wenn alles wieder gut ist.

Der Notarztwagen stand noch mit Blaulicht vor dem Haus.

Die Kriminalpolizei war da.

Und plötzlich ein Oberarzt aus der Klinik. Ich kannte ihn vom Sehen. Georg gar nicht.

Er war betroffen, sprach uns sein Beileid aus.

Nils müsse obduziert werden.

Nein, meinte Georg, nein, auf keinen Fall. Er mochte sich Nils nicht vorstellen, in der Gerichtsmedizin. Nochmal untersucht werden. Auch das jetzt noch. Nein! Es ist nicht wichtig für uns, woran er gestorben ist. Es wird eine Komplikation gewesen sein, aufgrund seiner Leukämie. Bitte, lassen sie ihn. Vielleicht könnten sie veranlassen, dass er das Plastik aus dem Mund bekommt, damit sich die Geschwister von ihm verabschieden können. Aber bitte, nicht obduzieren. Wir wollen und müssen es nicht wissen was es war.

Der Oberarzt versucht uns, zu überzeugen. Wäre wichtig, warum und woran. Wichtig für die Behandlung, wichtig für die Medizin. Einfach notwendig.

Er verschwindet mit der Kriminalbeamtin ins Wohnzimmer, zu unserem Sohn. Wir müssen draussen bleiben. Warten sie bitte.

Dann dürfen wir wieder rein. Es ist ein bisschen aufgeräumt worden. Nils liegt dort. Ist er das? Ja ja ja. Nein bitte nicht. Nein. Jetzt könnten wir uns noch verabschieden. Der Bestatter wäre unterwegs. Die Leiche ist beschlagnahmt und wird in die Gerichtsmedizin gebracht.

Wir bräuchten Zeit. Ruhe. Die Kinder zu wecken. Zeit uns zu trauen, die Kinder zu wecken.

Muss erst die Rescuetropfen suchen. Muss erst in die Apotheke fahren, starkes Beruhigungsmittel besorgen. Und Zigaretten. Können sie überhaupt Auto fahren? Ja, sicher. Klar. Julius müssen wir es schon sagen. Der wartet ja oben. Ach. Wir trauen uns nicht, ihm Nils zu zeigen. Seinen toten Bruder.

Mehr Zeit wäre gut. Was machen alle die Leute hier?

Und dann ist er schon abgeholt.

Weg.

Am Dienstag darauf hängt sich Georg zwei Stunden ans Telefon, um zu erfahren, wo unser Sohn ist. Wann er freigegeben wird. Ist nicht ein Telefonat. Sind mehrere. Ist eine Suche. Eine Qual. Wo ist eigentlich unser Kind? Danke, ja. Sie sind fertig mit ihm.

Es gibt Vermutungen, woran Nils starb. Theorien von seinen Ärzten, die mich zurückriefen. Ich weiss noch- Ich im Garten, telefonierend, weinend. Ich habe die ganze Zeit die Hühner mit Gras gefüttert, währenddessen. Nils ist tot. Tot. Ist doch egal warum.

Wir kriegen den Totenschein unter die Nase gehalten, einen Tag vor der Beerdigung.

Dort steht die Todesursache. Und Georg ist Arzt. Pankreatitis steht da.

Und dann möchten wir die Krankenakte sehen. Wie man eine Bauchspeicheldrüsenentzündung nicht erkennen konnte. Fragezeichen.

Das geht nur, wenn man zivilrechtlich klagt. Sonst kommt man nicht an die Akte. Meint unser Freund, der Anwalt ist.

Also leiten wir das in die Wege.

Zur Beerdigung kommen ganz viele.

Fast der ganze Friedhof ist voll, so kommt es mir vor.

Aus der Klinik kommen die Sozialarbeiterin, die Psychologin und zwei Pfleger. Ich weine nicht superviel an dem Tag, aber als ich die sehe, weine ich auch. Natürlich können Ärzte nicht zu jedem verstorbenen Kind zur Beerdigung gehen, das ist klar. Da muss man auch Berufliches von anderem trennen. Das verstehe ich.

Eine Karte?

Wir dürfen nicht mehr miteinander reden. Wegen dem laufenden Verfahren. Sagt einer.  Haben die Angst?

Dann Nils Akte. Die Angst ist durchaus berechtigt.

27 Kommentare zu „Erstes Kapitel“

  1. Liebe Melanie, meist fühle ich mich so unfähig die richtigen Worte zu finden. Wie soll man all das ausdrücken, was man angesichts eures Erlebens empfindet? Du machst das soo gut, hier in dieser Öffentlichkeit. Weise und ehrlich und mit Herz! Ich will ich dich nur wissen lassen, dass ich so oft an euch denke, mit-fühle, mit-traurig-bin und mit-wütend! Ich wünsche euch Gerechtigkeit! Aber vor allem – unabhängig davon, ob diese Gerechtigkeit offiziell kommt – Frieden! Irgendwann. Ich denke an euch! Alles Liebe! Steffi

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  2. Ich fühle mich stumm. Ganz klein in einem großen leeren Raum. Es gibt keine Worte die man finden kann, wenn man deine Zeilen liest. Unwirklich und doch wahr. Keine Worte gibt es dafür.

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